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Buchrezension: Die Kraft der Diagonalen von Gabriele Rachen-Schöneich & Klaus Schöneich

Gabriele Rachen-Schöneich und ihr Mann Klaus Schöneich leiten gemeinsam das Zentrum für Anatomisch Richtiges Reiten (ARR) in Goch. Seit über 20 Jahren trainieren sie hier gemeinsam Pferde und verbreiten dabei ihr umfangreiches Wissen über Anatomie und Biomechanik. Beide haben bereits einige Publikationen herausgebracht. Ihr neuestes Buch: Die Kraft der Diagonalen möchte ich euch im Folgenden kurz vorstellen.


Das Buch mit Hardcover-Einband erscheint im fast quadratischem Format. Es besteht aus 224 Seiten, welche sich in 3 Hauptkapitel und zahlreiche Unterkapitel gliedern. Inhaltlich geht es im wesentlichen um anatomisch korrektes Pferdetraining – zunächst an der Longe inkl. Schiefen-Therapie® und schließlich unterm Sattel.

“Im Mittelpunkt steht stets die Gymnastizierung des Pferdes und die Entwicklung seines Körpers hin zum Verständnis seiner eigenen Bewegung.”

(K. Schöneich, 2019, S.17)

Die Kapitel sind optisch sehr außergewöhnlich gestaltet. Neben zahlreichen künstlerischen Zeichnungen von Renate Blank, eine Künstlerin aus Soltau, sorgen optische Hervorhebungen, Zitate und farbige Seiten für ein gelungenes Gesamtkunstwerk.

Teil 1 – Warum longieren wir? (Kapitel 1-10)

Das Pferd ist ein Fluchttier, dessen Anatomie und Verhalten eben auf genau diesen Aspekt abgestimmt ist – keine Frage – doch wie wird aus einem Fluchttier ein sportlicher Athlet? Genau mit dieser Frage beschäftigt sich das erste Kapitel des Buches: Die Kraft der Diagonalen. Dabei geht es zunächst um das Thema natürliche Schiefe und Händigkeit als besonders wichtige Bewegungsfaktoren des Pferdes (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 25f).

Das Logo des Zentrum für Anatomisch Richtiges Reiten zeigt das Grundproblem des schiefen Pferdes über die Phasen der Schulterbewegung.

“Der Raumgriff der händigen Schulter des schiefen Pferdes ist verkürzt.”

(Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S.19)

Es folgt ein Fachkommentar von Dr. med. vet. Kerry Ridgway über die Nomenklatur der Lateralität des Pferdes. Dabei plädiert dieser mit medizinischer Argumentation für eine einheitliche Definition der Händigkeit des Pferdes hin zu einer “vorne-rechts- bzw. vorne-links-Dominanz” (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 31-41). Dabei legt er sowohl medizinische als auch verhaltenswissenschaftliche Indizien für die Bestimmung der Lateralität beim Pferd dar und zeigt damit, wie Komplex dieser Sachverhalt eigentlich ist. Der Fachkommentar ist äußerst interessant, regt zum Nachdenken und vor allem Nachprüfen an, wenn auch so mancher Begriff zum besseren Verständnis nachgeschlagen werden musste.

Im Anschluss folgt ein Blick auf die Urgenetik des Pferdes und eine Beschreibung dessen natürlicher biomechanischen Reaktionen auf unterschiedliche Reize, mit welchen die Unfähigkeit zur Kreisbahn und zur Versammlung einhergehen. Allerdings schlummern die gewünschten Bewegungsmuster bereits tief in unseren vierbeinigen Freunden – nämlich im Hengst, der seine Herde beschützt oder in der Stute, die sich demonstriert – im Training gilt es nun genau diese Muster zu aktivieren und das Pferd Schritt für Schritt Gerade zu richten (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 44).

“Diese Umwandlung der biomechanischen Reaktion ist also ein natürliches Verhalten, das tief im Pferd verankert ist.”

(Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 44)

Von den negativen Folgen und medizinischen Auswirkungen, die Zentrifugal- und Scherkraft auf das schiefe Pferd haben, berichten die Autoren im folgenden Abschnitt des Kapitels. Tierärztin Tina Wassing erläutert in ihrem Essay eine schwerwiegende Folge der Scherkraft im Bezug auf die Stellung der Augen und die damit verbundenen muskulären Begleiterscheinungen. Die Aufrechterhaltung des Gleichgewischtes des schiefen Pferdes, welches versucht eine Kreisbahn zu meistern, sorgt für muskuläre Verspannungen, sowie Blockkaden durch verschobene Halswirbelkörper (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 55ff). Stoffwechselprobleme, Entzündungen, Kissing Spines, Headshaking oder gar Hufrolle – als diese Kranksheitsbilder beschreiben die Autoren als mögliche Folge des fehlenden Geraderichtens in der Grundausbildung.

“Oberstes Ziel ist die Gewährleistung der Tragfähigkeit, die dem Pferd von Natur aus aufgrund seiner Anatomie nicht gegeben ist. […] Diese Gymnastik dient dem Geraderichten und erst ein geradegerichtetes Pferd ist tragfähig.”

(Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 66)

Auf die rassespezifische genetische Besonderheiten geht das letzte Kapitel des ersten Abschnittes ein. Dabei werden 7 Pferderrassen im Hinblick auf Ihre Zuchtziele und deren Auswirkung auf ihre Biomechanik näher betrachtet. Zudem geben die Autoren schon bereits dezente Hinweise, wie mit Hilfe der Schiefen-Therapie® diese rassespezifischen Besonderheiten individuell trainiert werden sollten. 

Teil 2 – Funktionelle Trainingsmethoden (Kapitel 11-19)

Der zweite des Buches beginnt mit einer kurzen Übersicht der wichtigsten Trainingsmethoden. Dabei wird auch die Wichtigkeit der dynamischen Dehnungshaltung, sowie die Überbiegung zum Muskelaufbau des Halsen und nicht zu vergessen die Anhebung des Rumpfes (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 82-83).

“Das Training mit Hilfszügeln beispielsweise ist nicht funktionell, da sie die Stabilisierung der Diagonalen, d.h. der Bewegungs- und Körpersymmetrie, für das Pferd nicht übernehmen. Pferde sollten lernen, aus eigener Kraft diese Stabilisierung zu halten, was bedeutet, das Pferd in den Schwerpunkt zu trainieren, also geradezurichten.”

“Die Biegung des Halses ist der Ansatz zum funktionellen Training, denn sie bringt das Pferd aus der statischen Dehnung heraus.”

(Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 83)

Im Anschluss werden die erforderlichen Trainingsvoraussetzungen besprochen – ein gut sitzender Kappzaum, eine kurze Bogenpeitsche und idealerweise ein Roundpaddock werden für die Schiefen-Therapie® an der Longe benötigt (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 90-91).

Dann geht’s ans Eingemachte… Von der korrekten Dehnungshaltung mit einem weichen und geschmeidigen Pferdehals, hin zur Biegung, erläutern die Autoren hier die Grundzüge der Schiefen-Therapie®.

“Die vertikale Biegungslinie entsteht durch die Hankenbeugung, sie ermöglicht das Anheben des Rumpfes und gibt dem Pferd die Möglichkeit sich zu Dehnen.”

“Durch die horizontale Dehnungsarbeit am Hals wird diesem mittels Biegung die Funktion als Steuerelement und Balancestange genommen, um über die Schulter schließlich Einfluss auf die Hinterhand nehmen zu können, die wiederum den Wechsel von Stand- und Spielbein erlernen muss. Durch diese diagonale Verschiebung vom inneren Vorderbein zum äußeren Hinterbein wird die natürliche Schiefe des Pferdes aufgehoben;”

(Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 92-93)

Die schrittweise Erarbeitung von Biegung und Stellung und schließlich über das Anheben des Brustkorbes zur korrekten Dehnungshaltung werden im Anschluss sehr bildlich erläutert (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. S.99 – 105). 

“Viel gepriesen, aber allzu oft missverstanden – die Dehnungshaltung bzw. vertikale Biegungslinie.”

(Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 105)

Es folgt ein umfangreiches Essay von Tierarzt Manuel Fernandez-Cuevas, welcher als Chiropraktiker am Zentrum für ARR praktiziert. Er erklärt sehr spannend und ausführlich das notwendige Zusammenspiel der unterschiedlichen Muskelgruppen, die für die Tragfähigkeit des Pferdes verantwortlich sind. Dabei erläutert er auch die wichtigen Trainingseffekte der Schiefen-Therapie® auf eben genau diese Muskeln (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 109-115).

Im Anschluss zeigen die Autoren noch die sensiblen Bereiche des Halses und Kopfes auf und gehen dabei auf deren Besonderheiten beim funktionellen Training ein (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 116-119). Wie immer ist auch dieses Kapitel sehr ansprechend bebildert, was sehr zum Verständnis beiträgt. 

Den Abschluss des zweiten Abschnittes macht ein Essay von der Tierärztin Tina Wassing, welche den Trapezmuskel als wichtigen Teil des Schultergürtels näher vorstellt. Sie geht auf dessen Funktion ein, ohne diesen als zu wichtigen Einzelspieler zu werten. Dennoch hebt sie vor allem seinen Einfluss bei Problemen wie Headshaking hervor (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 120f).

Teil 3 – Anatomisch richtiges Reiten

Der letzte Abschnitt des Buches widment sich der Überleitung von der Longe in den Sattel. Die vorher erläuterten Grundlagen werden nun auf das Reitpferd übertragen. Dabei wird gleich zu Beginn die Wichtigkeit der vertikalen Biegungslinie erörtet.

“Der weit verbreitete Irrglaube, dass man ein Pferd mit Rückenproblemen – das trifft oft bei Kissing Spines zu – vorwärts-abwärts- gehen lassen soll, führt leider zu negativen Ergebnissen, wenn davor nicht diese vertikale Biegungslinie angestrebt wird. Denn Kissing Spines entstehen zu einem hohem Prozentsatz durch dem tiefen Rumpf des Pferdes, verbunden mit einer starken Belastung der Vorhand.”

Es folgt ein Essay von Sattler Christoph Hubertus über den ARR-Sattel, welcher durch seine angepasste Bauart den hohen Anforderungen des Anatomisch Richtigen Reitens gerecht wird (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 130f).

Im Anschluss stellen die Autoren nochmal wichtige Merkmale der notwendigen Ausrüstungsgegenstände und Erläutern zudem ihr Vorgehen einem vermeidlichen Satteltrauma.

In einem weiteren Essay berichtet Tierärztin und Pferdedentalpraktikerin Rabea Neubaum von der Wichtigkeit der Regelmäßigen Kontrolle des Pferdegebisses. Viel Probleme beim Reiten lassen sich auf die Zahngesundheit zurückführen. So ist vor allem ein unentdeckter Wolfszahn häufig der Auslöser für viele Unarten wie Headshaking, Festbeißen, Durchgehen oder gar Steigen (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 136ff).

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dem Reitersitz, dem Einfluss des geradegerichteten Pferdes auf das Sitzgefühl und die Wichtigkeit der drei “B”:

“Beckenboden nach vorne kippen, Bauchnabel einziehen und Brustbeinspitze öffnen.”

(Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 142).

Wunderbar bildlich beschrieben ist das Kapitel “Anatomisch Richtiges Reiten in der Praxis”. Hier erläutern die Autoren sehr genau, wie man die gelernten Bewegungsmuster von der Longe im Sattel Stück für Stück abruft. Das beginnt bereits beim Warmreiten indem man beispielsweise Bögen reitet und intervallweise das Tempo variiert. Die Hilfengebung des Reiters ist hier ebenfalls sehr genau beschrieben und durch ansprechende Zeichnungen nochmals visualisiert (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S.152ff).

“Jede Ecke der Reitbahn wird als Viertelvolte genutzt, um die Diagonale zu kontrollieren, hin zum Schulterherein.”

(Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 155).

Die detaillierte Beschreibung der gängigen Lektionen wie Schlangenlinie, Schulterherein, Travers und Galopp runden die Anleitung sehr gut ab. Dennoch kommt ganz zum Schluss die ausdrückliche Warnung, Seitengänge zu früh zu fordern. Erst ein geradegerichtetes Pferd hat die notwendige Balance und Muskulatur für korrekte Seitengänge (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 165).

Es folgt ein kurzes Essay von Arlette Magiera, Schiefen-Therapeutin, über die klassische Handarbeit, welche sich wunderbar dazu eignet die angestrebten Lektionen zunächst vom Boden aus vorzubereiten (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 172f).

Im Anschluss stellen die Autoren einen detaillierten Ablaufplan für die Ausbildung vom Jungpferd zum Reitpferd vor. Dabei gehen Sie auf die Besonderheiten im jeweiligen Alter ein, die für das Training nützlich oder hindernd sein können (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 178-180).

Ein Essay von Jan Nivelle, ein internationaler Dressurtrainer, über die Bedeutung des Zirkels bei der Ausbildung des Reitpferdes beschreibt nochmals detailliert die Hilfengebung des Reiters aus Sicht des Ausbilders. Dabei werden vor allem Softskills im Umgang mit dem Pferd, sowie Fairness und dosiertes Einfühlungsvermögen thematisiert (vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 181-185).

Das Wort zum Schluss – es ist nie zu spät neu anzufangen:

“Schauen sie nicht zurück, sondern nach vorn. Lassen Sie die Vergangenheit ruhen, denn die Zukunft beginnt jetzt. Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr und lernen Sie die Einfachheit der Reaktion des Pferdes zu verstehen. Unsere Freunde die Pferde haben es verdient!.”

(vgl. Rachen-Schöneich & Schöneich, 2019, S. 188)

Fazit

Das Buch: Die Kraft der Diagonalen ist ein sehr umfangreicher und stilvoll gestalteter Einstieg in die Thematik der Schiefen-Therapie®.  Das Lesen des Buches ist anspruchsvoll und erfordert die Bereitschaft zum Mitdenken und ggf. auch Nachschlagen von medizinischen Fachwörtern, sowie der Lage von einzelnen Muskeln. Es ist jedoch eindeutig keine Anleitung zur selbstständigen Durchführung des Geraderichtens an der Longe. Es werden zwar sehr tiefgründig biomechanische Zusammenhänge und sichtbare Indikatoren für falsche und richtige Bewegung des Pferdes in der Kreisbahn erläutert, dennoch reicht auch die kurze Einführung in die erforderlichen “Werkzeuge” nicht für das alleinige Training aus. Je nach Kenntnisstand und Vorbildung des Lesers, stellt das Buch jedoch eine sehr sinnvolle Ergänzung zum Training an der Longe – oder gar zur Grundausbildung des Pferdes dar. Die vermittelten Grundlagen, anatomischen und urgenetischen Voraussetzungen sollten von jedem Pferdehalter gekannt und berücksichtigt werden. Der Abschnitt unter dem Reiter hingegen lädt eindeutig zum Ausprobieren ein. Hier werden sehr detailliert Übungen vorgestellt und dabei die Hilfengebung des Reiters erläutert. Die Beschreibungen der Hilfengebung ist sehr gut nachvollziehbar und logisch aufgebaut, sodass sich die vorgestellten Übungen sehr gut auf das eigene Training übertragen lassen. 

Rückblickend finde ich es dennoch etwas schade, dass nur sehr wenig praktische Tipps und Tricks für Training an der Longe vorgestellt werden. Wie funktioniert die Überbiegung im Detail, wie schaffe ich es, dass der Brustkorp angehoben wird, wie händle ich die Hilfengebung via Longe, Peitsche und Körpersprache? All diese Fragen werden in diesem Buch leider nicht beantwortet. Es bleibt am Ende ein wenig die Unsicherheit, inwiefern das eigene Pferd die vorgestellten Kriterien zum Geraderichten erfüllt und an welchem Punkt man schlussendlich ansetzen sollte. 

Durch das hohe Niveau des Buches  ist sowohl für Profis, Fortgeschrittene als auch für Anfänger der Materie geeignet. Von mir gibt es aufgrund des hohen Informationsgehaltes und der wunderbaren Aufmachung eine uneingeschränkte Leseempfehlung! 

Infos zum Buch
Originaltitel:Die Kraft der Diagonalen
Autor:Gabriele Rachen-Schöneich & Klaus Schöneich
Verlag: Müller Rüschlikon
Ort: Stuttgart
Jahr:2019
ISBN: 978-3-275-02152-9